Wovon träumen die Kinder in Nome?

Wovon träumen die Kinder in Nome?

Das Ende unserer ersten Reise führt uns ans (gefühlte) Ende der Welt. Der Hafen in Nome (Aussprache: Wie Rom, nur mit N wie Nordpol am Anfang) wirkt behelfsmäßig zusammengezimmert, unsere Gäste, die von Bord gehen, müssen über eine schlammige Schotterpiste in die ausgedienten Schulbusse steigen, die unsere Agentur vor Ort mangels schickerer Transportmittel als Shuttlebusse bereitgestellt hat. Das Örtchen selbst und die heruntergekommenen Fassaden der Häuser and den schnurgeraden Straßen strahlen an diesem verregneten Tag eine deprimierende Trostlosigkeit aus, die von Ödnis und Armut erzählt.

Die Bewohner, die uns über den Weg laufen, wirken dennoch gut gelaunt, offen und freundlich, wenngleich viele uns zahnlos anlächeln und schon am Morgen von einer leichten Alkoholfahne umweht werden. In dem schummrigen Café, das wir besuchen (The Polar Café) essen wir herzhaft, reichlich – und teuer. Nome ist derart abgelegen, dass es von außerhalb nur auf dem Luft- und Seeweg erreichbar ist. Zwar führen viele Wege nach Nome – allerdings nur von den umliegenden Dörfern und Kleinstädten aus. Der nächstgelegene Ort befindet sich in Russland (Lavrentiya, etwa 1500 Einwohner), und ist, weil durch die Beringsee von Nome getrennt, ziemlich schlecht zu erreichen. Bis zur nächsten Kleinstadt auf amerikanischen Boden (Bethel, ca. 6500 Einwohner) sind es laut Google Maps nur 105 km, aber eindreiviertel Stunde Autofahrt: Es handelt sich wohl nicht um eine vierspurig ausgebaute Autobahn. Bis nach Anchorage kommt man gar nicht mit dem Auto: die Distanz von etwa 865 km Luftlinie lässt sich laut Google auf dem Landweg nur mit Hundeschlitten oder Schneemobilen überwinden. Wer beides nicht hat, braucht einen Flug oder eine Bordkarte für ein Schiff. Solche Abgelegenheit treibt Preise für Lebensmittel in die Höhe. Pläne für den Ausbau der Infrastruktur gibt es nicht, und so besteht wenig Aussicht darauf, dass sich die Situation des Örtchens in absehbarer Zukunft ändern könnte.

Alles ist so anders als zu Hause: Die Straßen sind breit, ausgestorben und sauber. Die Häuser sind aus Holz und waren wohl einst bunt gestrichen, zumindest hat die Farbe, die von ihnen abblättert, unterschiedliche Farben. Der graue Himmel taucht alles in ein fahles Licht. Im Hafen rosten klapprige Bötchen vor sich hin, ein schmutziger Samojede ist vor einer Haustür angebunden und blinzelt uns verschlafen an.

Die Fremdartigkeit des Örtchens macht seinen Charme aus. Ich sitze im Polar Café und rühre gedankenverloren in meinem Kaffee (der ist lang und dünn, so wie ich ihn mag). Am Tisch gegenüber sitzt eine Familie mit einem blonden Mädchen. Sie trägt ein rosa T-Shirt mit Glitzer, hat ungekämmte blonde Haare und lässt ihre Beine unter dem Stuhl baumeln. Und ich frage mich: Wovon träumt man wohl an einem Ort wie diesen? Man kann doch nur von Dingen träumen, die man sich vorstellen kann. Wenn man einem Ort aufwächst, an dem alles grau, nass und trostlos ist – kann man dann von Rosengärten träumen? Von Zuckerwatte und Strandbuden, von Ponyhöfen und Barbiehäusern und all den anderen Dingen, von denen ich als Kind geträumt habe? Träume zu haben ist wichtig, sie beflügeln uns und treiben uns an. Wie groß oder klein unsere Träume sind, ist dafür völlig unerheblich. Als Kind träumte ich von einem Playmobil-Piratenschiff: So habe ich gelernt, auf etwas zu sparen. Welche Träume mag dieses kleine Mädchen haben, und werden sie in Erfüllung gehen?

Nach ein paar Stunden legt unser Schiff wieder ab, wir winken noch einmal diesem seltsamen Ort und stechen in eine spiegelglatte Beringsee, und ich träume von einer heißen Tasse Earl Grey mit meinem Liebsten an unserer Küchentheke. Das Schöne daran ist: Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Traum in ein paar Wochen in Erfüllung gehen wird. Dem kleinen Mädchen aus Nome wünsche ich, dass ihre Träume sich auch erfüllen.

A local from Nome and a yellow garden Nome (haha).

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3 Antworten

  1. Martina sagt:

    Ich bin in einem kleinen Dorf in Nordwales groß geworden (immer noch weniger als 4.000 Einwohner). Für Kinder gab es nichts zu tun (deswegen bin ich sehr gut mit dem ersten Jahr der Pandemie fertig geworden).

    Wovon träumt man in solchen Orten? Also es gab den Fernseher, Bücher, das Radio und Zeitschriften. Da ich Erdkunde als Schulfach immer mochte – und darin gut war – durfte ich stapelweise die alten Ausgaben von National Geographic von einem Erdkundelehrer ausleihen.

    Ich träumte von Weltreisen, von exotischen Ländern, von der Gobiwüste und die Amazonas. Die Gobiwüste habe ich 2009 gesehen. Ich hoffe, dass ich den Regenwald nächstes Jahr sehen werde.

    Ich habe viele Bücher gelesen. Unter anderen, die Schulbüchger von Enid Blyton. Also…ich träumte von ‚midnight feasts‘ in Internaten.

    Und dann all die Fernsehserien….jede Nacht träumte ich, dass ich auch ein abenteuerliches Leben erleben würde.

    Wenn man in einem Kaff lebt, kann man sehr gut träumen.

    In fact, if daydreaming were an Olympic sport, I’d be world champion.

  2. Silvi sagt:

    Japp, das bin ich 🙂

  3. Mum sagt:

    Quizfrage des Tages: Wie heißt der yellow garden Nome? Bist Du das, Silvie?

    Was für ein schöner Beitrag. Toll geschrieben, wunderbare Bilder. Danke!

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