Narwal schmeckt am besten

Narwal schmeckt am besten

Als junge Frau im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert war für mich eines immer klar: Eine gesunde Ernährung ist ballaststoffreich und fettarm. Laut Ernährungspyramide des Bundesgesundheitsamtes enthält sie Fleisch nur in geringen Maßen, den größten Teil machen frisches Obst und Gemüse aus, und Hülsenfrüchte sind eine besonders bevorzugte Proteinquelle.

Wer in Nunavut lebt, kann darüber nur müde lächeln. In der arktischen Tundra wachsen keine Obstbäume, im harten Permafrostboden gedeihen nicht mal die widerstandsfähigsten Wurzelgemüse- oder Kohlsorten, von Hülsenfrüchten ganz zu schweigen. Ein paar kleine Gewächse ducken sich vor dem erbarmungslosen Wind und tragen in den kühlen Sommermonaten Beeren, die zur traditionellen Küche der Bewohner dieses nördlichsten Teils von Kanada gehören. Hauptsächlich aber besteht die Küche der hier beheimateten Inuit aus Fisch und Fleisch: Arktischer Saibling, Karibu- und Moschusochsenfleisch, Robben-, Walross- und Walfleisch. Die traditionelle Küche der Inuit ist übrigens eher eine „kalte Küche“: Das Fleisch wurde und wird häufig roh gegessen. Frisches, rohes Fleisch ist überraschend vitaminreich – insbesondere der Blubber (die dicke Fettschicht) unter der Haut von Walen und Robben kann Mangelerscheinungen wie Skorbut vorbeugen, das Fleisch selbst ist besonders proteinreich. In einem Erdteil, in dem kaum eine Pflanze wächst, lebten die Inuit über Jahrtausende überwiegend von besonders fettigen tierischen Nahrungsmitteln, die das Überleben in der kargen, kalten Tundra sicherten.

Bis heute werden in den abgelegenen Inuit-Gemeinden noch Robben und Wale für den Eigenbedarf gejagt, und bis heute hängt die Ernährungssicherheit der Menschen davon ab. Denn in den Wintermonaten sind die Ortschaften im arktischen Norden oft durch Eismassen von der Außenwelt abgeschnitten, und Flieger oder Schiffe mit „westlichen“ Nahrungsmitteln können die Supermärkte nicht beliefern: Die Regale bleiben leer. Wenn sie gefüllt sind, ist es dennoch schwer, eine Familie mit Lebensmitteln zu versorgen: Nahrungsmittel sind exorbitant teuer, die Einkommen in den Gemeinden fernab der großen Wirtschaftsmetropolen hingegen gering. Um nicht Hunger leiden zu müssen, sind viele Inuit-Familien daher auch heute noch von der Jagd und Fischerei abhängig.

Die Regierung erteilt deshalb Sondergenehmigung für die Jagd auf Wale und Robben ausschließlich für den Eigenbedarf. Was die Jäger nicht für sich selbst benötigen – wie z.B. die Robbenfelle – dürfen sie weiterverarbeiten und verkaufen, um so in einer Gegend mit extrem hohen Arbeitslosenzahlen etwas Geld in die Haushaltskasse zu spülen. Folglich werden im hohen arktischen Norden manchmal ganz legal Taschen, Handschuhe oder Schuhe aus Robbenfell angeboten, die man dank EU-weiter Ausnahmeregelungen ebenfalls völlig legal zu Hause einführen darf (sofern man in der EU zu Hause ist).

Als wir in Cambridge Bay, einem 1700-Seelen-Ort in der Nordwestpassage, landen, führen uns ein paar junge Menschen in Grüppchen durch ihr Dorf, und zum Abschluss kommen alle Gäste auf dem Dorfplatz zusammen. Dort steht für uns ein liebevoll angerichteter Probierteller mit Spezialitäten bereit: Moschusochsen-Frikadellen, ein Stückchen roher Narwal-Blubber, eine Crème mit den Beeren, die man hier erntet, und ein Stück Seesaibling. „Narwal mag ich am liebsten“, hat mir meine Kollegin Ashley, unsere Inuit-Kulturbotschafterin, erzählt. Ich stecke mir beherzt die angebotenen Spezialitäten in den Mund: Die Moschusochsen-Frikadelle schmeckt ganz ähnlich wie die Wildfrikadelle von unserem Viertelsmetzger, die Beeren-Créme auf dem Cracker süßlich und frisch, der Seesaibling zergeht auf der Zunge. Dann nehme ich meinen Mut zusammen und probiere auch den kleinen Würfel Narwal-Speck – er schmeckt genau so, wie man es sich vorstellt. Ich schaudere.

Für heute habe ich dem Skorbut jedenfalls genug vorgesorgt, und ab morgen halte ich mich wieder an die Ernährungspyramide des Bundesgesundheitsamts.

Kostprobe: Nur ein klitzekleiner Würfel grauer Narwalspeck.

Eine Antwort

  1. mum sagt:

    Ich habe mich am Ende scheckig gelacht, nachdem ich die ganze Zeit gedacht habe, wie gelehrt die liebe Autorin ist! Schön! Gut das wir nicht alle Narwhalblubber essen müssen, um überleben zu können!

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