Russland sehen und sterben

Russland sehen und sterben

Manchmal habe ich mich gefragt, warum Menschen sich mit uns auf die Reise über die Nordküste des amerikanischen Kontinents und durch die Nordwestpassage begeben. Landschaftlich ist die Gegend jedenfalls nicht besonders reizvoll. Ich persönlich habe im Geographie-Unterricht ja damals aufgepasst: Am nördlichen Rand des amerikanischen Kontinents erwartet uns arktische Tundra. Die „Kältesteppe“ ist eine Vegetationszone, in der im Grunde außer ein paar widerborstigen gelblichen Gräsern nichts wächst. Ich habe also nicht mit zauberhaften, üppigen Landschaften gerechnet. Die einzige Abwechslung von der gelblich-dürren, flachen Einöde der Tundra bilden die noch kargeren, steinigen Landschaften der Inseln, die wir besuchen: Unsere Anlandungen auf Beechey Island (wo das Foto oben entstanden ist) oder Sutton Island fühlten sich eher so an, als seien wir mit unseren Zodiacs auf dem Mond gelandet.

Mondlandung im Morgengrauen auf Sutton Island.

Einer unserer Gäste beklagte sich, dass er sehr enttäuscht von der Reise sei: Er habe mit riesigen Eisfeldern und imposanten Eisbergen gerechnet. Er habe die Berichte der berühmten Polarforscher gelesen, und da sei doch immerzu die Rede von gigantischen Eismassen. Wo er Recht hat, hat er Recht: Die HMS Terror, die später in ihrem Leben mit Mann und Maus in der Arktis verloren ging, war auch auf ihrer ersten Arktisreise nur knapp einem eisigen Grab am Meeresboden entronnen, als sie vom Eis 13 Meter in die Höhe gehoben wurde. Wenn das mal keine gigantischen Eismassen sind!

Die HMS Terror steckt im Eis fest.

Nun waren aber die Polarforscher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in der Regel mehrere Jahre in der Arktis unterwegs. Die Expedition von Roald Amundsen zum Beispiel, die 1906 endlich den lange vergeblich gesuchten Weg durch die Nordwestpassage entdeckte, hatte ihre Reise 1903 begonnen und mehrere Winter in der Arktis verbracht. Amundsens Schiff, die Gjøa, war insgesamt drei lange Winter im Eis eingefroren, hilflos und bewegungsunfähig, bis das erbarmungslose Eis sie im arktischen Sommer endlich wieder freigab und sie ein bisschen weiter vordringen konnte, bevor sie im arktischen Herbst erneut eingefroren wurde. Ehrlich gesagt, das wollen wir nicht. Unsere Durchfahrung der Passage soll drei Wochen dauern, nicht drei Jahre, also durchfahren wir die Passage im arktischen Sommer und genießen den freien Blick auf die trostlosen Permafrostlandschaften der arktischen Tundra. Offen gestanden sind wir sogar heilfroh, wenn wir keine meterhohen Packeismauern sehen.

Was, also, macht den Reiz der Nordwestpassage aus?

Die hängenden Gärten von Nome

Nun ja, es ist halt eine sehr besondere Reise. Das erste Mal, das ein Passagierschiff die Nordwestpassage zu touristischen Zwecken durchfuhr, war 2009. Bis heute ist sie eine der am wenigsten befahrenen Strecken auf See. Man gehört schon zu einem sehr exklusiven Club, wenn man sie durchfahren hat.

Und außerdem gibt es auf dem Weg in die Nordwestpassage noch etwas ganz Besonderes zu sehen: Russland. Ein paar Tage, nachdem wir von Nome aus losgefahren sind, macht sich im ganzen Team Aufregung breit: Wir fahren an den Diomedes-Inseln vorbei, zwei flachen Erhebungen im Beringmeer, von denen eine zu Russland und eine zu den USA gehört. Zwischen den Inseln verläuft nicht nur eine Ländergrenze, sondern auch die internationale Datumsgrenze, weswegen die Inseln manchmal auch als „Tomorrow Island“ (russisch) und „Yesterday Island“ (amerikanisch) genannt werden. Ich bin jedenfalls ganz schnell an Deck gerannt, um mich mit Russland im Hintergrund fotografieren zu lassen: Jetzt darf ich mit Fug und Recht behaupten, Russland gesehen zu haben!

Kaum zu erkennen, und doch da: Im Hintergrund sieht man einen flachen Schimmer am Horizont. Die Große Diomedes-Insel – Russland!

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Eine Antwort

  1. Mum sagt:

    Faszinierend wie immer! Toll geschrieben, schön dargestellt.

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