Die große Vermissung

Die große Vermissung

Es ist wunderschön hier. Wir sind vom Südosten Alaskas gestartet, dessen küstennahe Gebiete von gemäßigten Regenwäldern geprägt sind: Hohe, dunkle Nadelwälder säumen den zwischen Meer und Gebirge eingepferchten Küstenstreifen. Der Westwind drückt die aus dem Meer aufsteigende, regenschwangere Luft gegen die Hänge der Alaska-Bergkette, wo sie sich abkühlt und die Feuchtigkeit in Form von Regen entlässt. Das führt zum Entstehen eines artenreichen Dschungels aus Nadelbäumen, Flechten und Moosen. Wie in einem Märchenwald fühlt es sich an, wenn das Gezwitscher der unzähligen Vogelarten, die es hier gibt, durch die moosgedämpfte Waldstille erklingt.

Von dort geht es nach Südzentralalaska, wo die Icy Bay uns eine weitere Facette der wilden Schönheit Alaskas zeigt: Vier Gletscher kalben Eisschollen in vier Fjorde, die in der Icy Bay zusammenlaufen und dort das Treibeis ins Meer entlassen.

Als wir uns immer weiter Richtung Westen begeben, verändert sich die Landschaft. Hier ist die Entfernung zur nächstgelegenen Bergkette größer, die Winde fegen aggressiver über die Landschaft, die Temperaturen sinken, der Wald wird gedrungener. Noch weiter westlich geht es in den Katmai National Park, dessen Landschaft zwar immer noch üppig grün erscheint und doch so anders ist als die des Südwestens. Hier kommen die Lachse zum Laichen hin, und folglich gibt es jede Menge Bären an dieser reich für sie gedeckten Tafel. Zwei Tage ankern wir mit dem Schiff in Katmai und erkunden mit den Zodiac-Booten die Buchten. Ich sehe zum ersten Mal in meinem Leben einen Bären in freier Wildbahn und staune beseelt.

Noch weiter westlich liegen die Aleuten. Wir folgen der Inselkette bis zur Insel Chuginadak und besuchen auf dem Weg dorthin das verlassene Dorf Unga Village auf der gleichnamigen Insel (Tier des Tages: Die Kuh! Dazu an einem anderen Tag mehr). Die Aleuten sind Vulkaninseln, viele davon unbewohnt – die einzige Aktivität auf den Inseln ist vulkanisch. Die gesamte Inselkette liegt auf einer tektonischen Plattengrenze, und viele der an dieser Grenze entstandenen Vulkane sind bis heute aktiv. Es handelt sich bei den Aleuten-Vulkanen um Schichtvulkane, deren Ausbrüche in der Regel hochexplosiv und gewaltig sind. Vor uns liegt friedlich der Mount Cleveland, ein paar Wolken dekorativ über die Hänge und seine Kuppe drapiert, von der Sonne in vorteilhaftes Licht gerückt. Noch im Juni 2020 hat er Lava und Asche in den Himmel gespuckt – jetzt sieht er so aus, als könne er kein Wässerchen trüben.

Je mehr ich sehe und staune, mich verzaubern und mir den Atem rauben lasse, um so mehr vermisse ich die Menschen, von denen ich weiß, dass auch sie Freude an den neuen Eindrücken, den Abenteuern, der Natur hätten.

Ich bin dankbar für die moderne Technik – für den Satelliten, der es mir ermöglicht, mit meinen Liebsten in Verbindung zu bleiben, und für Smartphones, mit denen ich Fotos machen und Postkarten schreiben kann, obwohl ich mich mitten in der Beringsee befinde. So kann ich mein Abenteuer teilen, meine Sehnsucht im Zaum halten und die große Vermissung hoffentlich auf beiden Seiten lindern.

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Eine Antwort

  1. Mum sagt:

    Es wird von Blog zu Blog schöner und aufregender. Bären in freier Wildbahn – hoffentlich nicht aus der sehr Nähe! Vielen Dank, liebe Silvie, für die schönen Bilder und noch schönere Nachrichten aus der Ferne. Wir vermissen Dich auch, aber Du bist immer in unseren Gesprächen und Gedanken.

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